Eine Koproduktion mit dem Festival Blickwechsel / Puppentheater Magdeburg, dem FITZ! Zentrum für Figurentheater Stuttgart und dem Théâtre Octobre Brüssel

 

 Presse

Pralles Leben auf dem Friedhof

Mit „Das Lumpenpack von San Cristobal“ zeigte das Materialtheater Stuttgart einen poetisch-beklemmenden Beitrag zur Flüchtlingsdebatte.
Erschienen am 02.07.2016 in Magdeburger Volksstimme – von Kathrin Singer
Vor knapp einem Jahr machte die Meldung europaweit Schlagzeilen, in der reichen Schweiz würden Flüchtlinge vorübergehend in Bunkern untergebracht. Ohne Tageslicht und mit wenig Sauerstoff, begleitet von hitzigen Diskussionen – es sei „unwürdig“ bis hin zu „besser unter der Erde als unter Bomben“. Möglicherweise ließen sich die Puppenspieler um Alberto García Sánchez davon inspirieren, zumindest aber drängen sich die Parallelen geradezu auf. Sánchez nahm eine Erzählung aus den 1960er Jahren seines Landsmanns Pere Calders, berühmtester katalanischer Autor des 20. Jahrhunderts, und entwickelte mit seinem Ensemble eine zutiefst berührende Inszenierung. Calders, nach dem spanischen Bürgerkrieg selbst für 23 Jahre im mexikanischen Exil, erzählt die Geschichte einer Gruppe Schutzsuchender, die ihr von Überschwemmungen zerstörtes Dorf verlassen und ausgerechnet auf einem Friedhof, dem sinnbildlichen Ort des Friedens, Zuflucht finden. Dort richten sie sich häuslich ein, Wäsche wird gewaschen, Tomaten gezogen, Kinder gezeugt. Die Reaktionen auf die Zugezogenen sind unterschiedlich: während sich die einen freuen über die Belebung des Ortes der Stille oder auch nur über die ungewöhnliche Ordnung – „So sauber und gepflegt war das hier noch nie!“ –, fürchten andere um die Totenruhe.
Ruhig mit poetischen Momenten
Das vierköpfige Ensemble spielt im Magdeburger Puppentheater seine schlaglichtartigen Szenen hauptsächlich an verschiebbaren Tischen, die je nach Anordnung Außen- und Innenräume zeigen. Es verschmilzt mit den etwa ein Dutzend Tischpuppen zu einem vielstimmigen Chor. Sánchez setzt dabei nicht auf drastische Bilder, um vordergründige Aktualität herzustellen, sondern erzählt äußerst ruhig, fast dokumentarisch die Geschichte der Gestrandeten. Dabei entstehen sehr poetische, aber auch humorvolle Momente, wenn die neuen Friedhofsbewohner debattieren, ob man in einer Kapelle einen Friseurladen betreiben dürfe, oder wenn die Seelen der Verstorbenen sich zunächst bitterlich über die Ruhestörungen beklagen, später aber sehnsüchtig das pralle Leben über der Erde beneiden. Zynische Züge erhält die Geschichte, wenn eine „besorgte“ Kunstkennerin sich kritisch über die Wäscheleinen „ohne künstlerisches Konzept“ zwischen den Grabmalen äußert oder ein Outdoorfreak über sechs Wochen Sommerurlaub unter freiem Himmel schwärmt. Die Spielweise wechselt dabei vom Tischpuppenspiel in die Erzählung oder auch ins Schauspiel. Es siegen die Gegner – „Das ist nichts Politisches, wir sind nur besorgt“ –, und die Heimatlosen treiben in einem einfachen Pappkartonboot ins Nirgendwo. Sie lassen damit den bürokratischen Bürgermeister, der in der absurdesten und in ihrer gnadenlosen Konsequenz am Ende brutalsten Szene des eindrücklichen Abends kurzerhand den Friedhof abbauen lässt, am Ende bei den Toten zurück, an dem nun wirklich stillen Ort.

Wer die Totenruhe stört

Stuttgarter Zeitung: „Ist es respektlos, verzweifelt oder nur entschlossen zu überleben, das Lumpenpack von San Cristóbal? Obdachlos geworden, besetzt es einen Friedhof, stört die Totenruhe und erbost so die Bürger. Das Ensemble Materialtheater konfrontiert in einer auf Showeffekte verzichtenden Inszenierung mit einem Tabubruch und seinen Folgen. (…) Poetisch und ruhig erzählt das Ensemble Materialtheater von der Entwurzelung, die Menschen nach Umweltkatastrophen und Krieg trifft. (…) Es wird ein lebensfrohes, sympathisch-geschwätziges Völkchen vorgestellt (…) während vor der Friedhofsmauer die Bürgerschaft „Lumpenpack in den Sack“ skandiert. Das Ende ist bitter: Der neuen Heimat verwiesen, ziehen die Spieler das bunte Völkchen in einem Pappkarton hinter die Kulissen.“

Auf dem Totenacker ist die Hölle los


Esslinger Zeitung:
„Unter der Regie von Alberto Garcia Sánchez werden Befindlichkeiten subtil austariert. In dem Stück (…) geht es um Akzeptanz und Toleranz und darum, dass das Denken gelegentlich die Richtung wechseln muss. Die zeitgenössische Parabel hat die Flüchtlingsproblematik der Gegenwart im Blick (…) Entstanden ist eine schöne Mischung aus Objekttheater, Schauspiel und Erzählung. Das Lumpenpack erzählt in poetischen Bildern vom Schicksal Schutzsuchender. Obwohl das Stück auf die aktuelle Fluchtbewegung zielt, bleiben den Zuschauern Schreckensbilder erspart. Das Publikum kann selbst Analogieschlüsse auf die erschreckende Wirklichkeit ziehen.“

Mit der Naivität in die Tiefe


Ludwigsburger Kreiszeitung:
„Es fiele leicht, ganz vordergründig diese Geschichte als Beitrag zur aktuellen Flüchtlingsdiskussion zu sehen. Das aber scheint zu kurz gedacht. (…) Nein, gerade dieses Spiel mit den Puppen öffnet den Blick für Aspekte hinter der allseits bekannten Problematik. Denn in Wahrheit schaut dieses Stück in vieler Hinsicht voller Ironie in die Tiefe. Fein und menschlich haben die vier Spieler unter der Regie von Alberto García Sánchez versucht, unaufgeregte Zwischentöne zum Klingen zu bringen. Dabei wird die Naivität, die das Figuren- und Materialspiel auszeichnet, geschickt genutzt. Zwischen den Requisiten, die die skurrilen Grabmäler darstellen, läuft ein Spiel ab, das hinter seiner Harmlosigkeit die Widersprüche fein beleuchtet. (…) Wer sich beflügeln lassen möchte von der Distanz zur nüchternen Realität, bekommt einen sehr unterhaltsamen und hintergründigen Abend mit einer Prise Humor.“