Von Götterkindern und Holzköpfen oder die alte Leier von der Verführbarkeit der Menschen

4.Teil des Theaterzyklus „Heimweh nach der Zukunft“ zum Thema Aufbruch zu unbekannten Inseln

Schon oft wurden Utopien beerdigt. Dennoch – Revolutionäre kann man vielleicht töten, nicht aber ihre Ideen.

Das ahnen auch die böhmischen Marionetten eines kleinen Theaters, als Archibald bei ihnen auftaucht. Er ist der Sohn von Zeus und Europa, ist überzeugt davon, dass die Dinge veränderbar sind und träumt von einer besseren Welt. Doch das Theater gehört ihm nicht allein, er muss es sich mit seiner Schwester Annabelle teilen. Sie hat eine ganz andere Vorstellung von Gesellschaftsordnung und setzt diese mit allen Mitteln durch… Und die wettergegerbten, echten Holzköppe? Sie lassen (fast) alles mit sich machen – fast wie wir, oder? Das Ringen um die Seele Europas, der Kampf zweier Weltanschauungen – Profit gegen Solidarität, sind hier verpackt in eine bissig, anrührend, närrische Parabel auf den Zustand unserer Welt.

Stuttgarter Zeitung

„Ein Stück ist ein Stück ist ein Stück …oder viele. Auf mehreren Ebenen spielt „Puppen machen: Lärm“ vom Ensemble Materialtheater, das die Spielzeit des Zentrums für Figurentheater eröffnete. Lassen doch die Distanz zu den Geschichten in den Geschichten und schwarzer Humor die Dinge oft klarer sehen. So beginnt die Neubearbeitung der Parabel „Lärm“ des Autors und Regisseurs Alberto García Sánchez in einem Bus, in dem Fahrgäste – alle uniform beige gekleidet – über Regeln diskutieren, die es einzuhalten oder zu ignorieren gilt.

Zum bunten Theater wird alles durch eine mitreisende Künstlerin: Sie erzählt von Zeus und Europa. Der griechische Obergott zeugt mit der sexy Strandnixe fix die Tochter Annabelle und den Sohn Archibald, vermacht ihnen ein Theater auf Erden. Ihre Götterkids indes präferieren verschiedene Gesellschaftsordnungen. Während der poetische Archibald von einer besseren Welt mit Freiheit und Mitsprache träumt, versucht Annabelle ihre radikale Sicht durchzusetzen – mit strippenziehenden Schicksalsschwestern. Doch die böhmischen Stabmarionetten, die sturen „Holzköppe“, machen gern mal, was sie wollen. Das sind nur einige Details, die zeigen, wie raffiniert, fein ironisch García Sánchez den Kampf um Weltanschauungen und Europas Seele einfädelt, in dem Profit und Humankapital gegen Solidarität und Menschlichkeit stehen. Das leidenschaftliche Spiel, bei dem Puppen und Menschen eins zu werden scheinen, kommt ohne Moralin aus. Und weil so einige Lacher im Hals stecken bleiben, werden die Macht der Worte und Gesten, kurz der Zustand der Welt, umso deutlicher.“

Esslinger Zeitung „Eine humorvolle Art, Krawall zu schlagen.“

Mannheimer Morgen„Komische theatralische Abhandlung über den Kapitalismus, das Theater und irgendwie auch über die Liebe. Mit einem feinen Humor, der mit dem Altmodischen flirtet und gleichzeitig der Absurdität den Hof machte, wird eine Parabel auf unsere schnelllebige Zeit und ihre egoistischen Grundzüge erzählt.”

Stuttgarter Nachrichten „Die groteske Theaterreflexion über ein zwischen diktatorischen Systemen und vom Kapitalismus verwässerter Demokratie zerrissenes Europa bereitet großes Seh- und Hörvergnügen.“

Ludwigsburger Kreiszeitung „Ein spannendes Stück von beachtlicher Brisanz, hochpolitisch aber auch philosophisch.

Nach unserer ersten Inszenierung von „LÄRM“ 2012, eine Koproduktion mit dem Festival FIDENA, der IMAGINALE Stuttgart / Mannheim und Skappa! Marseille, haben wir uns entschieden 2018 diese Parabel von Alberto García Sánchez, unter dem neuen Titel „Puppen machen: LÄRM“, wieder auf die Bühne zu bringen.

Die Initialzündung war eine denkwürdige Zufallsbegegnung auf einem Dachboden   in Bayern. Was dort verpackt in einer verstaubten Kiste auftauchte, war ein Sortiment von wettergegerbten böhmischen Stabmarionetten mit Charakter, Patina und Erfahrung. Das geeignete Personal für die Neuerzählung dieser Geschichte:

Es sind Holzköpfe, sie sind eigenwillig, lassen fast alles mit sich machen und sind wie geschaffen für die Frage: Wer zieht die Fäden?

In der närrisch-bissigen „Familienfarce“ „LÄRM“, ringen die zwei ungleichen Götterkinder, die Geschwister Annabelle und Archibald um die Vorherrschaft in der Welt. Die despotische Annabelle erhebt ihren Machtanspruch mit starren von Gewinnsucht geprägten Unterdrückungsmechanismen, während ihr Bruder Archibald eine neue Vision des Zusammenlebens besingt, die von Solidarität und der Achtung für andere getragen wird.

Der theatrale Disput um die Frage, in welcher Welt wir leben wollen, über die Veränderbarkeit von Gesellschaftsformen und die Utopie einer geeinten Menschheit, ist aktueller denn je. Die Konflikte innerhalb und zwischen den Staaten nehmen zu. Demokratische Instrumente werden europaweit dazu verwendet, Demokratie zu zersetzen. In Deutschland dominiert die Flüchtlingsdebatte den Diskurs und verdrängt die zugrunde liegende Polarisierung der Gesellschaft in Arm und Reich.

Das wirkliche Alter der Puppen liegt übrigens im Dunkel. Sicher ist: Den Fall des Eisernen Vorhangs, den Zusammenbruch der UdSSR und den Siegeszug des neoliberalen Raubtierkapitalismus haben sie bereits in gesetztem Alter erlebt. Das macht sie zu idealen Zeitzeugen und Darstellern der jüngeren Gegenwart. Und wenn man sich die Macken und Scharten in ihren Holzköpfen einmal genauer ansieht, könnte man glauben, dass etwas weniger Annabelle und etwas mehr Archibald sehr hilfreich sein könnte.

Koproduktion des Ensemble Materialtheater Stuttgart & Théâtre Octobre Brüssel mit dem FITZ! Zentrum für Figurentheater, gefördert von der Stadt Stuttgart und dem Ministerium für Wissenschaft und Kunst Baden-Württemberg