„Keine Emotion beraubt den Geist so vollständig von seinen Möglichkeiten zu handeln und zu denken wie die Angst.“ Edmund Burke

Manipulation – eine unvollständige Collage ist der vierte und letzte Teil des Theaterzyklus EUROPA IN 4 KAPITELN, den das Ensemble Materialtheater 2010 begonnen hat. Bisher zu sehen waren: DER GARTEN (2010, Asylpolitik), LÄRM (2012, Europa zwischen zwei Gesellschaftsmodellen) Koproduktion mit der IMAGINALE 2012 (DE), SKAPPA & Associés Marseille (FR) und der FIDENA 2012 Bochum (DE), DAS MÄDCHEN IM LÖWENKÄFIG (2012, Medien und Solidarität)

Koproduktion mit dem FITZ ! Zentrum für Figurentheater Stuttgart und dem Théâtre Octobre Brüssel.Gefördert von der Stadt Stuttgart, dem Ministerium für Wissenschaft und Kunst Baden-Württemberg und dem Fonds Darstellende Künste e.V.Was ist echt? Was sieht nur echt aus? Welche Lügen sind verlockend? Welche Wahrheit inakzeptabel? Zwölf Künstlerkollegen – Puppen- und Schauspieler, Regisseure, Autoren, Musiker und Filmemacher aus Deutschland, Belgien und Italien – haben in drei 10-tägigen Laboratorien Sinn, Technik und Folgen der alltäglichen Manipulationen untersucht. Sie widmen sich lustvoll dem Vortäuschen, Vertuschen, Verfremden und Ablenken. Was erwartet Sie? Es wird animiert und manipuliert, gesungen, gespielt, ernst gemacht und abgefilmt.

Als Figurenspieler haben wir tagtäglich mit dem Phänomen der Manipulation zu tun: wir verführen unsere Zuschauer dazu zu glauben, dass Leben, vielleicht sogar Seele in toter Materie steckt. Dies tun wir nie zum Schaden des Zuschauers, denn er darf das Spiel durchschauen und selbst entscheiden ob er sich darauf einlässt. Was ist aber, wenn der Zuschauer das Spiel nicht mehr durchschauen darf? Wenn man ihn vom Eigentlichen ablenkt? Oder ihm Angst einjagt, so dass er an das Entscheidende nicht mehr denken kann? Unsere Wahrnehmung von Wirklichkeit ist bestimmt durch Medien. Man zeigt uns Bilder und überhäuft uns mit Informationen, die einen Wahrheitsanspruch erheben, den wir nicht mehr überprüfen können. Ein Dilemma.
„Lügen setzen sich durch, während Dementis kaum zur Kenntnis genommen werden – vielleicht eine Binsenwahrheit, die aber von den großen PR-Agenturen gezielt eingesetzt wird.“ Jörg Becker, Soziologe, Solingen.

Laboratorien:
Jörg Becker, Soziologe, Solingen: „Medien und Krieg“. Alberto García Sánchez, Regisseuer und Autor, Brüssel: „Die Welt der Zeichen – oder warum in chinesischen Filmen die Guten immer von oben kommen.“ (…)Die Bedeutung von Auf- und Abgängen, die Position im Raum, die Farben, aber auch die Wahl der Worte, Rhythmus, Gesten, Bewegung, all das sind Teile unserer Theater- und Filmsprache, die – bewusst eingesetzt – die Rezeption stark beeinflussen (…) ’La scène provoquée’, Alberto García Sánchez, L’Harmattan 2014

ESSLINGER ZEITUNG, 27.04.2015
“Manipulation – eine unvollständige Collage” hat im Stuttgarter FITZ Premiere
von Petra Bail

Man wird überall und ständig manipuliert. Man kann den Vorgang Verführung nennen, Ein-flussnahme oder Fremdsteuern. Letztlich geht es darum: „Wie kriege ich jemanden dazu, etwas Bestimmtes zu tun”, sagt Annette Scheibler vom Stuttgarter Ensemble Materialtheater. Gemeinsam mit internationalen Künstlerkollegen haben die Stuttgarter Figurenspieler einen „kollektiven Manipulationsversuch” unternommen, in dem Puppen, Clowns, Videoprojektionen und Film eine Rolle spielen. Das Ergebnis ist eine „unvollständige Collage” unter dem Titel „Manipulation”, die am morgigen Dienstag um 20.30 Uhr im Fitz Premiere hat. Ein politischer Theateransatz, Ironie, Witz und feine Antennen für innere Prozesse – dafür steht das Ensemble Materialtheater um Annette Scheibler, Sigrun Kilger und Alberto Garcia Sänchez. Gemeinsam mit Puppenspielern, Schauspielern, Regisseuren, Autoren, Musikern und Filmemachern wurden in drei je zehntägigen Arbeitstreffen die unterschiedlichen Mechanismen von Manipulation auf ernste und heitere Weisen untersucht. Das Großprojekt mit insgesamt 13 Beteiligten wurde ermöglicht durch die finanzielle Förderung der Stadt Stuttgart, dem Ministerium für Wissenschaft und Forschung Baden-Württemberg sowie dem Fonds Darstellender Künste. Der Arbeitsprozess im Kollektiv war den Mitwirkenden genauso wichtig wie das Theaterstück selbst, das vorerst nur vier Mal im Fitz zu sehen sein wird. „Es ist schwierig, so viele Leute unter einen Hut zu bringen”, erklärt Scheibler, die im Austausch mit Kollegen das Schärfen des eigenen kreativen Prozesses schätzt. Jeder brachte seine Ideen ein, die Umsetzung erfolgte gemeinsam. Mit der Live-Kamera auf der Bühne und vorgefertigtem Videomaterial wird trickreich die Zuschauer-Mani-pulation vorgeführt. Eine kleine Handpuppe in einem Guckkasten behauptet, dass niemand sie spiele und die Handkamera zeige, dass da tatsächlich niemand sei. „Natürlich arbeiten wir mit Manipulation, um das Publikum dahin zu führen, wo wir es möchten”, verrät Scheibler. Mit Clowns kann man das Thema der Einflussnahme auf einen einfachen Nenner herunterbrechen: Was passiert, wenn einer eine Tasse Kaffee trinkt, die der andere gerne haben möchte? Das sind dann die humorigen Momente, die sich mit ernsthafter Auseinandersetzung mit dem Thema Machtdemonstration und Krieg abwechseln. Auf Puppenebene wird eine gefakte Fernsehdiskussion über anstößige Kriegsfotografie geführt und damit die Frage aufgeworfen, ob es nicht viel obszöner ist, Kriege zu dulden? Ein Mordfall wird mit einer Livekamera gefilmt, Interviewbilder werden mit einem völlig anderen Text synchronisiert. Kurze Sequenzen zeigen auch den Kunstgriff, wie im Film mittels Musik unterschiedliche Wirkungen erzielt werden. Ein junger Filmemacher aus Berlin hat über den Arbeitsprozess einen 15-minütigen Künstlerfilm gedreht, der ebenfalls Teil der lustvollen Collage der Agenten der Manipulation ist.

STUTTGARTER ZEITUNG, 30.04.2015
“Manipulation per Plüsch-Gorilla”
Im FITZ zeigt das Stuttgarter Ensemble Materialtheater eine vergnügliche Szenencollage
von Cord Beintmann

Sigrun Kilger steht in Unterwäsche auf der Bühne und wird mit knallroten Stiefeln und Perücke zuerst in eine flotte Blondine verwandelt, dann mit weißem Kittel und einer völlig anderen Perücke in eine biedere Ärztin. Manipulation heißt, jemanden durch gezielte Beeinflussung in eine bestimmte Richtung zu lenken, und mit Kleidung kann man prima manipulieren. Die Ärztin verpasst einer Präsidentin ein völlig neues Gesicht mit Sorgenfalten auf der Stirn und ‘Charismafalten’ neben dem Mund. Die Spitzenpolitikerin möchte ein ‘ganz alltägliches Gesicht’, um sich an ihr Volk heranzuschwindeln. Ähnliches versucht ein Püppchen, dessen Kopf dem der Kanzlerin gleicht.

Mit allen möglichen Theatermitteln arbeitet das Stuttgarter Ensemble Materialtheater zusammen mit Freunden am Thema Manipulation. Jetzt ist die Produktion ‘ Manipulation – eine unvollständige Collage’ im Zentrum für Figurentheater uraufgeführt worden. Dreizehn Leute agieren auf der Bühne, für das Fitz ist das eine gewaltige Anzahl. Geboten wird eine Art Nummernrevue von fast dreißig Szenen, die Daniel Kartmann mit raffinierten Live-Klängen musikalisch unterfüttert.

Jede Szene steht inhaltlich und ästhetisch ganz für sich, und damit sind gut zwei Stunden Theater richtig spannend. Wie Manipulation funktioniert, zeigt Eva Kaufmann bravourös. Als Spenden erheischende Anwältin der bedrohten Berggorillas spricht sie erst einmal suggestiv. Dann lässt sie einen kleinen Plüsch-Gorilla zu ihrem Knie hinaufklettern und setzt damit auf den überrumpelnden Reiz der Putzigkeit. In der besten Szene kämpfen Alexandra Kaufmann, Sigrun Kilger und Annette Scheibler mit den Mitteln der Manipulation um einen Platz von zwei, drei Quadratmetern auf der Bühne, den jede der Frauen für sich allein beansprucht. Da gelingt ein Theater von überzeugender Bildsprache.

Witzig wird der Begriff Manipulation wissenschaftlich erklärt, da geht es um die linke und rechte Hirnhälfte, um den Verstand und um die Gefühle. Laura Oppenhäuser erklärt das alles mit Zeichnungen, die sie auf der Bühne vorzeigt und in denen zum Beispiel Menschen Manipulatives in ihre leeren Gehirne geschüttet wird. Natürlich ist das alles zart satirisch angelegt. Am Schluss des Abends ist ein Kurzfilm von Alexander Hector zu sehen, der intelligent die Frage bearbeitet, was für uns eigentlich Realität bedeutet.

Manipulation ist Betrug, Lüge, Täuschung. Nicht jede Szene schafft es, das klar auf den Punkt zu bringen. Doch ist der Abend absolut sehenswert, allein wegen der Vielfalt der theatralischen Mittel, Schauspielerei, Video, Puppenspiel und sehr fein eingebundene Musik. Und sehr amüsant ist das alles. Lustvolle Lacher durchziehen einen vergnüglichen Abend, der ganz und gar Theater ist.

STUTTGARTER NACHRICHTEN, 30.04.2015
“Der Teufel als Regierungssprecher” Ensemble Materialtheater und Internationale Gäste
von Brigitte Jähnigen

Narren sind das Gold in der Gesellschaft. Auch wenn sie von ihrem Psychotherapeuten manipuliert werden. Gyula Mòlnar führt dem Publikum im Stuttgarter Figurentheater Fitz am Dienstag mit bittersüßem Geschwätz das absurde Leben vor. Seiner japanischen Tanzmaus will er das Geradelaufen beibringen. Mit seinem Running Gag vom ‘abben’ Bein des kriegsversehrten Onkel Georg amüsiert er. Sein Psychotherapeut, so verrät er, sagt ihm, ‘was positiv ist, damit die Leute wieder über mich lachen können’. Und das böse Finale des Abends, in dem ein Mord geschieht und das ‘Corpus Delicti’ geraubt wird, kommentiert er lakonisch: ‘Nun ist nichts geschehen.’

Inhaltlich lose Szenen führen die Mitglieder vom Ensemble Materialtheater und internationale Künstlerkollegen zu einer Collage über Fremdbestimmung zusammen; Daniel Kartmann akzentuiert durch Musik und Geräusche. Vorgeführt wird eine bizarre Operation, in der eine Präsidentin sich liften lässt, um ihrer Wiederwählbarkeit wegen so auszusehen wie ‘eine aus dem Volk’. Sie ­illustrieren per Handzeichnungen herrlich absurde Gedanken über neuronale Verknüpfungen und deren Wirkungen auf die ‘rationale und emotionale Manipulation’. Sie halten Zeitungsschau mit Löchern in den Seiten. Eine Kriegsberichterstatterin verteidigt in einem Interview ihre dokumentarischen Fotos – die Moderatorin schlägt ästhetisierte Bilder (‘zum Beispiel eine weiße Tulpe mit roten Blutspritzern’) vor. Im Kasperspiel wird ein Kriegstreiber – eine Handpuppe in Teufelsgestalt – als neuer Regierungssprecher eingekauft. Und eine sogenannte Tierschützerin, gespielt als Gutmensch, vermenschlicht einen Stoff-Gorilla, um Geld einzutreiben.

Lügen, Halbwahrheiten sagen, verführen, locken, die Wahrheit so brutal vorführen, dass das Volk wegschaut: In drei zehntägigen Laboratorien haben die Künstler über alltägliches Manipulieren experimentiert. Unter dem Titel ‘ Manipulation – eine unvollständige Collage’ stellen sie ihr Ergebnis dem Publikum zur Diskussion.

LUDWIGSBURGER KREISZEITUNG
“Der Traum von Selbstbestimmung” Zwölf Künstler schaffen im FITZ eine Collage zum Thema Manipulation
von Arnim Bauer

Die kleine Handpuppe mit der Königskrone spricht große Worte – von Selbstständigkeit und Selbstbestimmtheit. Die Kamera verfolgt sie, schaut hinter den Paravent, hinter dem in solchen Fällen ein echter Mensch sitzt, der die Puppe führt. Aber hier – nichts! Die Puppe scheint tatsächlich ein Eigenleben zu führen. Oder ist es alles nur Manipulation?

Genau darum geht es in dieser Uraufführung im Figurentheater Fitz nämlich. „Manipulation -eine unvollständige Collage” hat das Materialtheater Stuttgart das vierte und letzte Kapitel seiner Europa-Betrachtungen genannt. Eine ganze Reihe von Künstlern befasst sich darin mit dem Thema der Beeinflussung, der Illusionen und vor allem auch mit deren Nutzung und Auswirkungen.

Es ist tatsächlich eine Collage aus vielen kleinen Episoden – insgesamt aber eine breite Einlassung auf das Thema. Und das in bemerkenswerter künstlerischer Vielfalt. Puppen- und Materialtheater, aber auch pantomimische Darstellungen, schauspielerische Sequenzen, Monologe, Dialoge – die verschiedenen Künstler schöpfen die Möglichkeiten auf breiter Front aus.

Eine breite Stoffsammlung zum Thema Manipulation ist hier entstanden: Mal wird erklärt, werden Fakten erläutert, dann wird wieder einfach gespielt. Abwechslung bietet der Abend in jeder Hinsicht reichlich. Die Folge der Szenen scheint eher einer Zufallsdramaturgie zu folgen, oder wird man schon wieder manipuliert?

In jedem Fall hat die Uraufführung auf angenehme Weise den Werkstattcharakter behalten, der das Projekt wohl von Anfang prägte. Es war sicher auch ein spannender Prozess, wie sich zwölf zum Teil sehr unterschiedliche Künstler diese Aufführung erarbeitet haben: Figurentheaterspieler, Regisseure, Schauspieler, Musiker, Autoren und Filmemacher. Und sie schaffen es, die vielfältigen Betrachtungs- und Herangehensweisen in eine kompakte Aufführung zu packen. Das Ergebnis überzeugt.